Detlef Garbe, Ansprache zur Gedenkveranstaltung am 30. April 2019 in Schandelah-Wohld

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Kaatz,
lieber Herr Dr. Krause-Hotopp, hier stellvertretend genannt für alle in der Aufarbeitung der  Geschichte und in der Gedenkstättenarbeit vor Ort Engagierten,
lieber Mark van de Diesche, verehrte Gäste aus der belgischen Amicale de Neuengamme und  die weiteren Angehörigen ehemaliger Häftlinge, die zu dieser Gedenkveranstaltung angereist  sind,
meine Damen und Herren!

Zunächst möchte ich Ihnen für die Einladung zu der heutigen Feierstunde danken, die mir die  Gelegenheit gibt, als Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zu Ihnen sprechen zu können.  
Das  KZ  Neuengamme  steht  mit  der  rücksichtslosen  Ausnutzung  der  Arbeitskraft  von  zehntausenden Häftlingen in der deutschen Kriegswirtschaft unter Bedingungen, die den Tod  durch Entkräftung bewusst einkalkulierten, für den von der SS geprägten Begriff „Vernichtung  durch Arbeit“. Hamburg, von Hitler zu einer der fünf „Führerstädte“ im Reich erklärt, plante  gigantische  Bauvorhaben  entlang  des  Elbufers.  Dafür  bedurfte  es  eines  Heers  von  Arbeitssklaven. Aus diesem Grund wurde Ende 1938 in den Hamburger Landgebieten für die  Ziegelproduktion das Lager Neuengamme eingerichtet, das ab Frühjahr 1940 zu den großen  Hauptlagern  zählte,  die  der  Inspektion  der  Konzentrationslager  unterstanden.  Nachdem  aufgrund des Krieges die Bauvorhaben für das „Neue Hamburg“ für die Zeit nach dem – wie  es damals hieß – „Endsieg“ verschoben worden waren, diente das Lager der Ausnutzung des  Arbeitskräftepotentials  für  kriegswirtschaftliche  und  militärische  Vorhaben.  Auf  dem  Lagergelände entstanden mehrere Rüstungsfabriken.
Seit 1942 kamen Häftlingskommandos aus dem KZ Neuengamme aber auch in großer Zahl an  auswärtigen Industriestandorten zum Einsatz, so im KZ „Arbeitsdorf“ beim Volkswagenwerk  und bei den Reichswerken „Hermann Göring“ in Salzgitter-Drütte. Ab 1943 kamen Einsätze in  weiteren  norddeutschen  Industriebetrieben  und  vor  allem  zur  Trümmerbeseitigung  nach  alliierten Luftangriffen in zahlreichen Städten hinzu.
Die weit überwiegende Zahl der Außenlager entstand jedoch erst im letzten Kriegsjahr, als  Rüstungsfirmen in ganz Norddeutschland Häftlinge des KZ Neuengamme zugeteilt wurden.  Schwerpunkte bildeten die industriellen Ballungsräume um Hamburg (Blohm&Voss, Deutsche  Werft,  Drägerwerk  AG,  Hanseatisches  Kettenwerk  u.a.),  Bremen  (Borgward,  Deschimag/ Krupp-Norddeutsche  Hütte  u.a.),  Hannover  (Accumulatorenfabrik  Stöcken,  Brinker  Eisen- werke, Continental-Gummiwerke AG, Hanomag u.a.) und Braunschweig–Salzgitter (Büssing,  Reichswerke „Hermann Göring“, Volkswagen u.a.).

Zumeist  wurden  die  Häftlinge zum  Bau  von  Produktionsstätten  eingesetzt,  etwa  dem  Bau  riesiger Bunker zur U-Boot-Fertigung in Bremen-Farge, Hamburg-Finkenwerder und Wilhelms- haven. Andere Außenlager dienten dem Ausbau von Stollen etwa im Weserbergland und in  Beendorf (Morsleben) zur Untertageverlagerung von Rüstungsproduktionsanlagen, dem Bau  von Behelfsheimsiedlungen oder von militärischen Befestigungsanlagen – wie bei der Anlage  von Panzersperrgräben entlang der Nordseeküste, so in Aurich, Husum und Meppen.
Im Rahmen des so genannten „Geilenberg-Programms“ mussten zur Produktionssicherung  der durch Bombenangriffe schwer geschädigten deutschen Mineralölindustrie Tausende von  Häftlingen  Aufräumungsarbeiten  bei  Raffinerien  ausführen,  so  in  Hamburg-Veddel  und  Hannover-Misburg. Im Rahmen dieses „Mineralölsicherungsplans“ vom Mai 1944 entstand  auch das Außenlager hier in Schandelah-Wohld. Es war eines der insgesamt 86 Außenlager,  die dem KZ Neuengamme unterstanden.
Die  verschiedenen  Aspekte  der  Lagergeschichte,  die  wirtschaftlichen  Hintergründe,  die  Arbeits- und Lebensbedingungen der Häftlinge, den Terror der SS und den Tod der hierher  Deportierten,  die  dramatischen  Umstände  der  Lagerräumung  bei  Kriegsende  und  der  Befreiung der Überlebenden, die Nachkriegsprozesse und der lange Weg vom Verdrängen zur  Aufarbeitung und die höchst erfreulichen Schulprojekte in den letzten Jahren fasst nun ein  Buch zusammen. Herrn Krause-Hotopp und der Gemeinde Cremlingen möchte ich sehr dafür  danken,  dass  dieses  Buch  nun die  Forschungen  zur  Geschichte  des  Außenlagers  KZ  Schandelah-Wohld 1944-1945 der Öffentlichkeit in komprimierter Form zugänglich macht.
Die Einrichtung dieses Außenlagers jährt sich in wenigen Tagen zum 75. Mal. Das Jahr 2019  erinnert mit runden Jahreszahlen an eine Reihe sehr bedeutsamer historischer Vorgänge. Nur  fünf  Jahre  nachdem  hier  im  Braunschweiger  Land die  SS  und  die  Steinöhl  GmbH  junge  Widerstandskämpfer  aus  nahezu  ganz  Europa  im  Ölschieferabbau  unter  mörderischen  Bedingungen zur Arbeit zwangen, verabschiedete der Parlamentarische Rat im Mai 1949 das  Grundgesetz, das die  Menschenrechte, die demokratischen Prinzipien, die  rechtsstaatliche  Verfassung, die Verpflichtungen zu Freiheit, Frieden und sozialer Gerechtigkeit zur Grundlage  der Bundesrepublik Deutschland erklärte. Dies war die Antwort auf den Unrechtsstaat der  Nazis. Wenn demnächst der 70. Jahrestag des Grundgesetzes begangen wird, gilt es daran zu  erinnern, welches Geschenk es für uns war, dass nach der Tyrannei und dem Vernichtungs- krieg, mit dem das nationalsozialistische Deutschland und seine faschistischen Verbündeten  ganz  Europa  und weitere  Teile  der  Welt  überzogen,  dank  des  alliierten  Sieges  und  der  Befreiung dieser Neuanfang möglich wurde.
Wir alle dürften von der Sorge erfüllt sein, dass die Errungenschaften der Demokratie und der  in Europa über Jahrzehnte  gewachsenen Staatengemeinschaft heute leichtfertig aufs Spiel  gesetzt  werden  können  infolge  des  sich  ausbreitenden  Populismus,  eines  neuen  Nationalismus, von extremistischen Bewegungen und durch sie in vielen Ländern an die Macht  gekommene Autokraten.  
Heute genau vor 100 Jahren, am 30. April 1919, wählte der Braunschweiger Landtag eine aus  freien  und  gleichen  Wahlen  hervorgegangene,  demokratisch  legitimierte  neue  Regierung.  Ministerpräsident der  Koalition  aus  SPD,  USPD  und  DDP wurde  der  sozialdemokratische  Rechtsanwalt Dr. Heinrich Jasper. Revolution und die Abdankung des Kaisers hatten diesen  Aufbruch in die Freiheit ermöglicht. Als nur etwas mehr als zehn Jahre später eine Mehrheit  

den Feinden der Freiheit die Machtübernahme ermöglichte, war nicht nur eine große Chance  vertan,  sondern  der  Weg  in  den  Abgrund,  in  Mord  und  Zerstörung  vorgezeichnet.  Der  langjährige  Ministerpräsident  Jasper  wurde  im März  1933  auf  Veranlassung  seines  Nachfolgers, des berüchtigten Nationalsozialisten Dietrich Klagges, verhaftet, er kam später  über das KZ Dachau und das „Lager 21“ bei Salzgitter-Watenstedt ins KZ Bergen-Belsen, wo er  im Februar 1945 starb.
Er zählt wie Hunderttausende und Millionen zu den Opfern eines Regimes, das beispiellose  Menschheitsverbrechen  verantwortete,  Europa  und  schließlich  auch  das  eigene  Land  verwüstete.  Wenn  heute  der  Vorsitzende  der  größten  Oppositionsfraktion  im  Deutschen  Bundestag dies zu einem „Vogelschiss“ der Geschichte meint erklären zu können, dann ist  allerhöchste  Wachsamkeit  geboten.  Die  Forderungen  nach  einer  „erinnerungspolitischen  Wende um 180 Grad“ und einer Verbannung des „irren Schuldkults“ –so der Wortlaut in einer  Pressemitteilung der AfD Niedersachsen  – sind keine Entgleisungen. Hier soll einem neuen  Nationalismus und der Wiederkehr von Leugnung, Aufrechnung und Relativierung der Weg  bereitet werden.
Dass Gedenkstätten  wie diese hier in Schandelah  uns als Orte der Mahnung zum Handeln  auffordern, ist heute wichtiger denn je. Ich hätte noch vor 10 oder 20 Jahren nicht geglaubt,  dass  unser  Gemeinwesen,  dass  die  europäische  Gemeinsamkeiten  derart  ins  Rutschen  geraten  können,  dass  es  wieder  an  der  Zeit  ist,  zur  Ver teidigung  von  Demokratie  und  Menschenrechten aufzurufen, ehe es zu spät sein kann.
Der Rechtspopulismus ist heute zweifellos die größte Herausforderung, vor der wir stehen,  nicht nur bei uns, sondern in vielen Staaten, in denen große Bevölkerungsteile wirt schaftliche  Verunsicherung verspüren, sich ängstigen, und deshalb für Hetze auf vermeintlich Schuldige,  auf Minderheiten und Fremde empfänglich werden. Das Problem  sind dabei nicht nur die  rechtspopulistischen  Parteien,  sondern  Erosionsgefahren  in  der  Mitt e,  Gewichtsverschie- bungen in der ganzen Breite sozusagen. Hier bedarf es eines klaren Dammes gegen menschen - rechtsfeindliches Denken. Noch gibt es eine große und erfreuliche politische Einmütigkeit aller  demokratischen  Kräfte  und  Parteien,  dem  Ungeist  ent gegenzutreten.  Wir  alle  sind  aufge- fordert, unseren Beitrag zur Stärkung der demokratischen Gegenkräfte und zur Entzauberung  der neuen Unheilspropheten zu leisten.
Ich weiß, dass Gedenkveranstaltungen keine Wahlveranstaltungen sind und sein dürfen, doch  wünsche ich mir sehr, dass die in zwei Monaten stattfindenden Wahlen zum Europäischen  Parlament in Deutschland wie in Belgien, in Frankreich wie in Polen bezeugen, dass sich die  Menschen in ihrer großen Mehrheit zum Miteinander statt zum Gegeneinander bekennen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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