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Sehr geehrter Herr Bürgermeister Kaatz,
lieber Herr Dr. Krause-Hotopp, hier stellvertretend genannt für alle in der Aufarbeitung der Geschichte und in der Gedenkstättenarbeit vor Ort Engagierten,
lieber Mark van de Diesche, verehrte Gäste aus der belgischen Amicale de Neuengamme und die weiteren Angehörigen ehemaliger Häftlinge, die zu dieser Gedenkveranstaltung angereist sind,
meine Damen und Herren!
Zunächst möchte ich Ihnen für die Einladung zu der heutigen Feierstunde danken, die mir die Gelegenheit gibt, als Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zu Ihnen sprechen zu können.
Das KZ Neuengamme steht mit der rücksichtslosen Ausnutzung der Arbeitskraft von zehntausenden Häftlingen in der deutschen Kriegswirtschaft unter Bedingungen, die den Tod durch Entkräftung bewusst einkalkulierten, für den von der SS geprägten Begriff „Vernichtung durch Arbeit“. Hamburg, von Hitler zu einer der fünf „Führerstädte“ im Reich erklärt, plante gigantische Bauvorhaben entlang des Elbufers. Dafür bedurfte es eines Heers von Arbeitssklaven. Aus diesem Grund wurde Ende 1938 in den Hamburger Landgebieten für die Ziegelproduktion das Lager Neuengamme eingerichtet, das ab Frühjahr 1940 zu den großen Hauptlagern zählte, die der Inspektion der Konzentrationslager unterstanden. Nachdem aufgrund des Krieges die Bauvorhaben für das „Neue Hamburg“ für die Zeit nach dem – wie es damals hieß – „Endsieg“ verschoben worden waren, diente das Lager der Ausnutzung des Arbeitskräftepotentials für kriegswirtschaftliche und militärische Vorhaben. Auf dem Lagergelände entstanden mehrere Rüstungsfabriken.
Seit 1942 kamen Häftlingskommandos aus dem KZ Neuengamme aber auch in großer Zahl an auswärtigen Industriestandorten zum Einsatz, so im KZ „Arbeitsdorf“ beim Volkswagenwerk und bei den Reichswerken „Hermann Göring“ in Salzgitter-Drütte. Ab 1943 kamen Einsätze in weiteren norddeutschen Industriebetrieben und vor allem zur Trümmerbeseitigung nach alliierten Luftangriffen in zahlreichen Städten hinzu.
Die weit überwiegende Zahl der Außenlager entstand jedoch erst im letzten Kriegsjahr, als Rüstungsfirmen in ganz Norddeutschland Häftlinge des KZ Neuengamme zugeteilt wurden. Schwerpunkte bildeten die industriellen Ballungsräume um Hamburg (Blohm&Voss, Deutsche Werft, Drägerwerk AG, Hanseatisches Kettenwerk u.a.), Bremen (Borgward, Deschimag/ Krupp-Norddeutsche Hütte u.a.), Hannover (Accumulatorenfabrik Stöcken, Brinker Eisen- werke, Continental-Gummiwerke AG, Hanomag u.a.) und Braunschweig–Salzgitter (Büssing, Reichswerke „Hermann Göring“, Volkswagen u.a.).
Zumeist wurden die Häftlinge zum Bau von Produktionsstätten eingesetzt, etwa dem Bau riesiger Bunker zur U-Boot-Fertigung in Bremen-Farge, Hamburg-Finkenwerder und Wilhelms- haven. Andere Außenlager dienten dem Ausbau von Stollen etwa im Weserbergland und in Beendorf (Morsleben) zur Untertageverlagerung von Rüstungsproduktionsanlagen, dem Bau von Behelfsheimsiedlungen oder von militärischen Befestigungsanlagen – wie bei der Anlage von Panzersperrgräben entlang der Nordseeküste, so in Aurich, Husum und Meppen.
Im Rahmen des so genannten „Geilenberg-Programms“ mussten zur Produktionssicherung der durch Bombenangriffe schwer geschädigten deutschen Mineralölindustrie Tausende von Häftlingen Aufräumungsarbeiten bei Raffinerien ausführen, so in Hamburg-Veddel und Hannover-Misburg. Im Rahmen dieses „Mineralölsicherungsplans“ vom Mai 1944 entstand auch das Außenlager hier in Schandelah-Wohld. Es war eines der insgesamt 86 Außenlager, die dem KZ Neuengamme unterstanden.
Die verschiedenen Aspekte der Lagergeschichte, die wirtschaftlichen Hintergründe, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Häftlinge, den Terror der SS und den Tod der hierher Deportierten, die dramatischen Umstände der Lagerräumung bei Kriegsende und der Befreiung der Überlebenden, die Nachkriegsprozesse und der lange Weg vom Verdrängen zur Aufarbeitung und die höchst erfreulichen Schulprojekte in den letzten Jahren fasst nun ein Buch zusammen. Herrn Krause-Hotopp und der Gemeinde Cremlingen möchte ich sehr dafür danken, dass dieses Buch nun die Forschungen zur Geschichte des Außenlagers KZ Schandelah-Wohld 1944-1945 der Öffentlichkeit in komprimierter Form zugänglich macht.
Die Einrichtung dieses Außenlagers jährt sich in wenigen Tagen zum 75. Mal. Das Jahr 2019 erinnert mit runden Jahreszahlen an eine Reihe sehr bedeutsamer historischer Vorgänge. Nur fünf Jahre nachdem hier im Braunschweiger Land die SS und die Steinöhl GmbH junge Widerstandskämpfer aus nahezu ganz Europa im Ölschieferabbau unter mörderischen Bedingungen zur Arbeit zwangen, verabschiedete der Parlamentarische Rat im Mai 1949 das Grundgesetz, das die Menschenrechte, die demokratischen Prinzipien, die rechtsstaatliche Verfassung, die Verpflichtungen zu Freiheit, Frieden und sozialer Gerechtigkeit zur Grundlage der Bundesrepublik Deutschland erklärte. Dies war die Antwort auf den Unrechtsstaat der Nazis. Wenn demnächst der 70. Jahrestag des Grundgesetzes begangen wird, gilt es daran zu erinnern, welches Geschenk es für uns war, dass nach der Tyrannei und dem Vernichtungs- krieg, mit dem das nationalsozialistische Deutschland und seine faschistischen Verbündeten ganz Europa und weitere Teile der Welt überzogen, dank des alliierten Sieges und der Befreiung dieser Neuanfang möglich wurde.
Wir alle dürften von der Sorge erfüllt sein, dass die Errungenschaften der Demokratie und der in Europa über Jahrzehnte gewachsenen Staatengemeinschaft heute leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden können infolge des sich ausbreitenden Populismus, eines neuen Nationalismus, von extremistischen Bewegungen und durch sie in vielen Ländern an die Macht gekommene Autokraten.
Heute genau vor 100 Jahren, am 30. April 1919, wählte der Braunschweiger Landtag eine aus freien und gleichen Wahlen hervorgegangene, demokratisch legitimierte neue Regierung. Ministerpräsident der Koalition aus SPD, USPD und DDP wurde der sozialdemokratische Rechtsanwalt Dr. Heinrich Jasper. Revolution und die Abdankung des Kaisers hatten diesen Aufbruch in die Freiheit ermöglicht. Als nur etwas mehr als zehn Jahre später eine Mehrheit
den Feinden der Freiheit die Machtübernahme ermöglichte, war nicht nur eine große Chance vertan, sondern der Weg in den Abgrund, in Mord und Zerstörung vorgezeichnet. Der langjährige Ministerpräsident Jasper wurde im März 1933 auf Veranlassung seines Nachfolgers, des berüchtigten Nationalsozialisten Dietrich Klagges, verhaftet, er kam später über das KZ Dachau und das „Lager 21“ bei Salzgitter-Watenstedt ins KZ Bergen-Belsen, wo er im Februar 1945 starb.
Er zählt wie Hunderttausende und Millionen zu den Opfern eines Regimes, das beispiellose Menschheitsverbrechen verantwortete, Europa und schließlich auch das eigene Land verwüstete. Wenn heute der Vorsitzende der größten Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag dies zu einem „Vogelschiss“ der Geschichte meint erklären zu können, dann ist allerhöchste Wachsamkeit geboten. Die Forderungen nach einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ und einer Verbannung des „irren Schuldkults“ –so der Wortlaut in einer Pressemitteilung der AfD Niedersachsen – sind keine Entgleisungen. Hier soll einem neuen Nationalismus und der Wiederkehr von Leugnung, Aufrechnung und Relativierung der Weg bereitet werden.
Dass Gedenkstätten wie diese hier in Schandelah uns als Orte der Mahnung zum Handeln auffordern, ist heute wichtiger denn je. Ich hätte noch vor 10 oder 20 Jahren nicht geglaubt, dass unser Gemeinwesen, dass die europäische Gemeinsamkeiten derart ins Rutschen geraten können, dass es wieder an der Zeit ist, zur Ver teidigung von Demokratie und Menschenrechten aufzurufen, ehe es zu spät sein kann.
Der Rechtspopulismus ist heute zweifellos die größte Herausforderung, vor der wir stehen, nicht nur bei uns, sondern in vielen Staaten, in denen große Bevölkerungsteile wirt schaftliche Verunsicherung verspüren, sich ängstigen, und deshalb für Hetze auf vermeintlich Schuldige, auf Minderheiten und Fremde empfänglich werden. Das Problem sind dabei nicht nur die rechtspopulistischen Parteien, sondern Erosionsgefahren in der Mitt e, Gewichtsverschie- bungen in der ganzen Breite sozusagen. Hier bedarf es eines klaren Dammes gegen menschen - rechtsfeindliches Denken. Noch gibt es eine große und erfreuliche politische Einmütigkeit aller demokratischen Kräfte und Parteien, dem Ungeist ent gegenzutreten. Wir alle sind aufge- fordert, unseren Beitrag zur Stärkung der demokratischen Gegenkräfte und zur Entzauberung der neuen Unheilspropheten zu leisten.
Ich weiß, dass Gedenkveranstaltungen keine Wahlveranstaltungen sind und sein dürfen, doch wünsche ich mir sehr, dass die in zwei Monaten stattfindenden Wahlen zum Europäischen Parlament in Deutschland wie in Belgien, in Frankreich wie in Polen bezeugen, dass sich die Menschen in ihrer großen Mehrheit zum Miteinander statt zum Gegeneinander bekennen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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